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Blog Essay

Willkommenskultur damals und heute

Dreißig Jahre nach dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina wird nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Ukrainekrieg und dem Umgang mit Flüchtlingen gefragt. Im Nachgang zum Panel „Bosnien 1992 – Ukraine 2022: Zivilgesellschaftliche Reaktionen auf den Krieg“ vom 7. April diskutiert unsere Autorin Emina Haye diese und andere Fragen.

Jeden Tag erreichen uns neue, schreckliche Bilder aus der Ukraine. Die meisten Menschen, die den Krieg in Bosnien-Herzegowina erlebt haben, fühlen sich dadurch in die Zeit Anfang der 1990er Jahre versetzt: Bilder von Frauen und kleinen Kindern, Bilder von Soldaten, Panzern, Zerstörung und, ja, Bilder von vielen unschuldigen Opfern. Die Ukrainer*innen und die Bosnier*innen verbindet so das gleiche, traurige Schicksal — vertrieben aus dem eigenen Land, auf der Flucht ins Ungewisse, viele davon landen in Deutschland. Heute, 30 Jahre nach dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina, wird nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen diesen beiden Kriegen und vor allem auch über den Umgang mit den Geflüchteten diskutiert.

Ich möchte mich diesen Diskussionen aus meiner persönlichen Perspektive einer aus Bosnien-Herzegowina geflüchteten Berlinerin annähern. Dieser Beitrag hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, es handelt sich ausschließlich um meine persönlichen Erfahrungen im Umgang mit diesem Thema.

Einige Zahlen

Zwischen 1991 und 1995 wurden in Deutschland um die 350.000-400.000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien registriert, wovon ca. 35.000 in Berlin verzeichnet wurden. Und das, obwohl die Bundesrepublik anfangs von der Übernahme einer Kontingentflüchtlingszahl von ca. 5.000 sprach. Berlin wollte sogar nur 300 Flüchtlinge aufnehmen.

Die Bundesrepublik befand sich Anfang der 1990er, als die ersten Flüchtlinge ankamen, in einer Umbruchsphase: Die Wiedervereinigung lag noch gar nicht so lange zurück, die Berliner Mauer war erst vor Kurzem gefallen, die Arbeitslosigkeit im Land war sehr hoch. Die Menschen waren damit beschäftigt, ihr eigenes, neues Leben zu begreifen und zu organisieren. Die letzten alliierten Truppen haben sich 1993/1994 nach fast 50 Jahren aus Deutschland zurückgezogen, und das Stadtbild Berlins sah vielerorts noch grau und wüst aus. Auf der zivilgesellschaftlichen Ebene herrschte, soweit sich mir erschloss, großer Unmut, eine noch größere Unzufriedenheit, und, den Flüchtlingen gegenüber, vor allem auch große Ablehnung. Das zeigte sich (auch) auf politischer Ebene, da Deutschland eine sehr restriktive Flüchtlingspolitik betrieben hatte. In den Nachwendejahren waren sogenannte Ausländerfeindlichkeit (Rassismus) und hohe Gewaltbereitschaft gegenüber Menschen nichtdeutscher Herkunft weit verbreitet, nicht nur im Ostteil Deutschlands. Man sprach auch von den Baseballschlägerjahren.

Die Bundesrepublik hatte die Visumspflicht für Staatsbürger*innen (ex-) Jugoslawiens selbst zu Beginn der Kriegshandlungen nicht aufgehoben, sodass die Flüchtlinge für die Einreise ein gültiges Einreisevisum brauchten. Die Ausstellung eines gültigen Einreisevisums war zumindest für bosnische Flüchtlinge ein Ding der Unmöglichkeit, da die deutsche Botschaft in Sarajevo im Zuge des Krieges geschlossen wurde. Viele dieser Flüchtlinge kamen dennoch nach Deutschland, weil sie hier bereits Verwandte und/oder Bekannte hatten. Diese waren im Zuge der Arbeitsmigration in den 1970ern als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und lebten seitdem hier. Die Regelung mittels einer Aufnahmequote, wie es in Österreich zuerst der Fall war, sah vor, dass anfangs nur diejenigen, die verwundet und krank waren, einreisen und aufgenommen werden durften. Diejenigen, die Freunde und/oder Verwandte hier hatten, die für sie eine Verpflichtungserklärung (Übernahme der Unterkunft und Verpflegung) übernahmen, durften ebenfalls ins Land einreisen.

Um Asylmissbrauch zu verhindern, so wie es damals hieß, trat 1993 eine Grundgesetzänderung (Artikel 16a des Grundgesetzes) in Kraft, die unter dem Schlagwort Asylkompromiss vielen im Gedächtnis geblieben ist. Bis dahin hatte es geheißen, dass politisch Verfolgte Asylrecht in Deutschland genießen (dürfen). Die Anpassung des Grundgesetzes umfasste die folgenden Punkte:

  • Wer über ein EU-Land oder ein anderes Nachbarland Deutschlands eingereist war, hatte keinen Anspruch auf Asyl (bzw. Aufenthalt) und konnte sofort abgewiesen und/oder abgeschoben werden;
  • Wer aus Ländern stammte, in denen „keinerlei Verfolgung oder unmenschliche Behandlung“ drohte, hatte ebenfalls keinen Asyl- bzw. Aufenthaltsanspruch;
  • Wer auf Luftwegen einzureisen versuchte, sollte im Rahmen eines sog. Flughafenverfahrens von bis zu 19 Tagen eine Entscheidung über seinen Asylantrag direkt am Flughafen bekommen.

Anders als heute gab es in den 1990er Jahren keine Möglichkeit, die eigenen Kriegserfahrungen, die Verfolgung aufgrund seiner ethnischen, religiösen oder nationalen Zugehörigkeit sowie die Flucht im Rahmen eines Asylantrags bzw. eines Asylverfahrens zusammenzufassen. Die Anträge wurden zwar gestellt, das Asylrecht beschränkte sich jedoch nur auf diejenigen, die eine staatliche bzw. politische Verfolgung in ihrem Heimatland erleiden mussten und hierzulande nachweisen konnten. Den Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina sollte zumindest vorübergehend, für die Dauer des Krieges in ihrer Heimat, ein Aufenthalt in Form einer sogenannten Duldung gewährt werden. Die Personen, die aus rechtlichen, humanitären oder persönlichen Gründen nicht in ihre Heimat zurückkehren konnten, wurden in Deutschland geduldet. Im Folgenden werde ich die unterschiedlichen Aufenthaltstitel der damaligen Zeit erläutern und zusammenfassen.

Duldung

Eine Duldung wurde als temporäre Aussetzung einer Abschiebung bezeichnet und in der Regel dann ausgestellt, wenn die Anträge auf ein Asylverfahren abgelehnt bzw. von den Flüchtlingen selbst zurückgezogen wurden. Es handelte sich hierbei um einen zeitlich befristeten Aufenthaltsstatus, der eine Dauer von einem Tag bis zu sechs Monaten umfassen konnte und der kein dauerhaftes Bleiberecht innerhalb der Bundesrepublik vorsah. Nach Ablauf dieser Frist musste die Duldung erneut beantragt und die Gründe, die gegen eine Ausreise sprachen, erneut offenbart werden. Viele dieser aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Flüchtlinge wie ich lebten teilweise Jahrzehnte lang mit dem Duldungsstatus in Deutschland. Sie mussten alle paar Wochen bei der Ausländerbehörde vorsprechen, wo dann die Voraussetzungen für die Wiedererteilung (oder den Widerruf) der Duldung vor Ort überprüft wurden. Es war ein Leben in Ungewissheit und in Angst. Es bauten sich zusätzliche Existenz- und Zukunftsängste auf. Die Kernpunkte und Konsequenzen, die an eine Duldung geknüpft waren, umfassten Folgendes:

  • Beschränkung der Residenzpflicht auf das Bundesland, in dem die Anmeldung und Ausstellung der Duldung erfolgte. Weder das Bundesland noch die Bundesrepublik durften verlassen werden. Im Falle der Missachtung drohte die Abschiebung und/oder finanzielle Sanktionen.
  • Der Zuzug von minderjährigen Kindern und/oder Ehepartner*innen war nicht gestattet.
  • Die Aufnahme einer selbständigen oder sonstigen beruflichen Tätigkeit war nicht gestattet.
  • Die Aufnahme einer beruflichen Ausbildung oder eines Studiums waren nicht gestattet.
  • Unterbringung ausschließlich in Flüchtlingswohnheimen bzw. Gemeinschaftsunterkünften, kein Anspruch auf eine eigene Wohnung.
  • Die Flüchtlinge waren auf die Sozialhilfe angewiesen. In den 1990er Jahren umfasste deren Sozialhilfesatz jedoch knapp 80% des eigentlichen Sozialhilfesatzes. Ende der 1990er Jahre bekamen die Flüchtlinge sogar kein Bargeld mehr ausgezahlt, sondern Lebensmittelgutscheine, die nur in bestimmten, teils überteuerten Geschäften, eingelöst werden konnten.
  • Medizinische Grundversorgung war auf niedrigem Niveau, da die Kosten ebenfalls von den Ämtern getragen wurden. Kosten für die Psychotherapie, die dringend gebraucht wurde und die oft nur mit Dolmetscher*innen zu bewältigen waren, wurden nicht übernommen. Dies führte dazu, dass sich die Flüchtlinge vermehrt an Sozialberatungsstellen und Vereine wandten, die kostenlos arbeiteten, und die aufgrund des hohen Andrangs überfüllt und überfordert waren.

Grenzübertrittsbescheinigung

Die sogenannten Grenzübertrittsbescheinigungen kamen nach der Unterzeichnung des Daytoner Friedensvertrages vermehrt auf und wurden dann ausgestellt, wenn über das Asylverfahren negativ entschieden bzw. wenn eine Duldung nicht mehr verlängert und/oder erteilt wurde. Die Grenzübertrittsbescheinigung stellte keinen Aufenthaltsstatus dar, sondern beinhaltete ausschließlich die Aufforderung der zuständigen Ausländerbehörde, die freiwillige Ausreise innerhalb einer festgesetzten Frist anzutreten. Es handelte sich tatsächlich um eine Bescheinigung, wie der Name es schon vermuten lässt, die von demjenigen, dem sie erteilt wurde, an der deutschen Grenze abzugeben war, damit festgehalten werden konnte, dass der Ausreiseaufforderung der Bundesbehörden gefolgt wurde.

Wurde die vorgegebene Frist für die „freiwillige“ Ausreise nicht eingehalten, so drohte eine Abschiebung und/oder Abschiebehaft. Die Menschen waren natürlich verunsichert, es gab unzählige Fälle, in denen die Flüchtlinge nachts in ihren Unterkünften überrascht, „abgeholt“ und dann abgeschoben wurden, ohne dass diese vorgegebene Frist der Behörden überschritten wurde. Viele Flüchtlinge lebten in dieser Zeit in sehr großer Angst, viele übernachteten gar nicht erst an ihren Wohnorten und schickten ihre Kinder auch nicht in die Schule.

Als der Daytoner Friedensvertrag im Dezember 1995 unterzeichnet und somit das Ende des Krieges eingeläutet wurde, gab es für die in Deutschland lebenden Flüchtlinge einen großen Einschnitt. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages bedeutete für sie die Rückführung in ihre vom Krieg gezeichnete, zerstörte Heimat. Diejenigen Flüchtlinge, die anerkanntermaßen psychisch erkrankt und in Behandlung waren, sahen sich mit neuartigen Regelungen konfrontiert: Ein Bleiberecht und somit Schutz vor Abschiebung und Rückführung nach Bosnien-Herzegowina waren nur noch dann möglich, wenn von behördlich anerkannten Psycholog*innen und/oder Gutachter*innen, die von der Ausländerbehörde und/oder den Verwaltungsgerichten mit der Begutachtung beauftragt wurden, eine kriegsbedingte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bestätigt und/oder diagnostiziert wurde. Für die Flüchtlinge, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahren in psychologischer oder psychotherapeutischer Behandlung befanden, war diese Praxis ein erneuter Schlag ins Gesicht und setzte sie zusätzlichem psychischen Stress aus. Die meisten dieser von den Behörden anerkannten Gutachter*innen waren mit den Einzelfällen- und Schicksalen nicht vertraut. Die zu begutachtenden Flüchtlinge hatten keine Vertrauensbasis und über ihr Schicksal wurde nach einem oft nur kurzen Gespräch entschieden. Das Thema der Begutachtungen findet an dieser Stelle nur kurz Erwähnung, ich werde mich jedoch in weiteren Beiträgen ausführlicher diesbezüglich äußern.

Obwohl nach wie vor humanitäre Gründe gegeben waren (die Menschen waren nach wie vor traumatisiert, ihre Kinder waren in der deutschen Gesellschaft integriert, ihre Häuser in Bosnien-Herzegowina waren zerstört), gab es aus offizieller und politischer Sicht nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Dayton keine Gründe, die gegen eine Abschiebung bzw. Rückführung nach Bosnien-Herzegowina sprachen. 1996/1997 wurde zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Bosnien-Herzegowina ein Rückübernahmeabkommen beschlossen, mit dem eine etappenweise Rückführung der Flüchtlinge geregelt wurde. Die Duldung wurde nicht mehr verlängert, die Grenzübertrittsbescheinigung wurde ausgestellt. Diejenigen, deren kriegsbedingte Posttraumatische Belastungsstörung anerkannt wurde, konnten für die Dauer ihrer Behandlung hier bleiben. Diese Anerkennung, die an bestimmte Voraussetzungen geknüpft war, führte zur Erteilung bzw. Verlängerung der Duldung bis zu einem Jahr.

Aufenthaltsbefugnis

Die Anerkennung der kriegsbedingten Posttraumatischen Belastungsstörung führte zur Ausstellung des ersten Aufenthaltstitels, der den Flüchtlingen einen legalen und längerfristigen Aufenthalt in Deutschland gemäß §32a versprach: die Aufenthaltsbefugnis.

Die Aufenthaltsbefugnis wurde denjenigen ausgestellt, die als politische bzw. kriegstraumatisierte Flüchtlinge im Zuge der Begutachtungen als solche anerkannt wurden. Durch die Erteilung der Aufenthaltsbefugnis fielen die meisten Restriktionen, die die Duldung umfasste (s.o.), weg. Die Aufenthaltsdauer einer Befugnis umfasste maximal zwei Jahre und es bestand nach wie vor die Möglichkeit einer Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina, abhängig von der politischen und/oder zivilgesellschaftlichen Entwicklung im Land. Im Unterschied zur Duldung versprach die Aufenthaltsbefugnis jedoch ein „normaleres“ Leben und ermöglichte die ersten Schritte zur Integration im Lande.

Wie zu sehen ist, war die rechtliche, berufliche und persönliche Situation für die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren von großen Hürden, Einschränkungen und quälenden Unsicherheiten geprägt. Auf meine persönlichen Erfahrungen aus jener Zeit werde ich in meinem Beitrag zum Buch noch etwas genauer eingehen.

An dieser Stelle möchte ich nun zum Krieg gegen die Ukraine und die Folgen für die Flüchtlinge in der EU und in Deutschland zu sprechen kommen.

Reaktionen auf den Ukraine-Krieg und Folgen

Die Ukraine wurde ziemlich schnell mit Waffenlieferungen unterstützt. Während des Krieges in Bosnien-Herzegowina gab es diese Unterstützung nicht: es wurde ein Waffenembargo verhängt, sodass das Land und die Menschen komplett auf sich selbst gestellt waren. Es gab vereinzelte Unterstützung aus verschiedenen Staaten, es war jedoch nur die Auslieferung von Handfeuerwaffen erlaubt. Die Ukrainer*innen, die heute nach Deutschland kommen, erfahren sehr viel Willkommenskultur: sie können sofort Deutschkurse besuchen, die Kinder können zum Kindergarten, zur Schule, sie dürfen einer Arbeit nachgehen. Es gibt ganz viele Verbände, Initiativen, Freiwillige etc., die die gesamte Infrastruktur der hier ankommenden Ukrainer*innen organisieren und unterstützen. Dies sind vielleicht die markantesten Unterschiede zwischen beiden Kriegen aus Sicht der öffentlichen Wahrnehmung in Berlin.

In Bosnien-Herzegowina spielt die Invasion auf die Ukraine eine sehr präsente Rolle in der Zivilgesellschaft, was vor allem durch die verstärkte Präsenz der EUFOR-Kräfte auf den Straßen deutlich wird. Viele Menschen, die in Bosnien-Herzegowina leben, erleben Flashbacks und fühlen sich durch die Bilder aus der Ukraine auf Anfang der 1990er Jahre versetzt. Viele haben nach wie vor mit den Traumata des Erlebten zu kämpfen, einige befinden sich nach wie vor in psychologischer und/oder psychiatrischer Behandlung — wenn sie diesen Schritt überhaupt je gewagt haben. Langzeitfolgen wie Angstzustände, Depressionen, depressive Phasen, Flashbacks sind nach wie vor verbreitet. Die Bosnier*innen machen sich Gedanken, wie sie schnell und sicher fliehen könnten; sie halten ihre Dokumente und gepackte Koffer parat.

Bereits die Pandemie hat die ersten Erinnerungen an den Krieg wachwerden lassen, sodass viele Menschen in Bosnien-Herzegowina Hamsterkäufe tätigten und Lebensmittelreserven anhäuften, um nicht in die gleiche Lage wie während des Krieges zu geraten und hungern zu müssen. Dazu kamen bereits im letzten Jahr 2021 die sich permanent zuspitzenden Drohungen aus der sogenannten Republika Srpska (RS), dem serbisch dominierten Landesteil, sich abzuspalten und Serbien anzuschließen, was mit lautstarken Genozidleugnungen und der Sabotage staatlicher Gesetze und Institutionen einher gegangen war. Der Angriff auf die Ukraine löste eine zweite Welle der Hamsterkäufe aus, die jedoch in Verbindung mit den stark gestiegenen Preisen für sehr viel Unmut sorgte. Die Invasion in die Ukraine hat diese Ängste umso mehr geschürt, weil die Gefahr viel näher ist — und weil die Menschen außerdem um die ausgesprochene Nähe zwischen den serbischen Politikeliten und dem russischen Putin-Regime wissen. Ein Hoffnungsschimmer, den sie bei allem Ungemach jedoch sehen, ist die derzeitige durchweg positive Reaktion auf die Flüchtlinge bzw. die rasche Organisation mit den selbigen.

In den deutschen Medien hörte man zu Beginn der Invasion auf die Ukraine wiederholt den Satz Es ist der erste Krieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Dies empörte die Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die hier leben, aber auch diejenigen, die in Bosnien-Herzegowina leben, stark: sie fühlten sich verraten und in ihrer These, Europa habe nicht helfen wollen, bestätigt. Sie sind (zurecht) wütend, erbittert und empört, weil der Krieg in Bosnien-Herzegowina doch gar nicht so lange her ist und im Herzen Europas stattfand. Politiker*innen aus Bosnien, Kroatien und Serbien beteuern zwar, dass es keine bewaffneten Konflikte auf dem Gebiet der jeweiligen Länder geben werde; die Menschen sind dennoch verunsichert und trauen ihren Worten nicht. Die Pro-Putin-Rhetorik der einzelnen Präsidenten und die Relativierung des Genozids in Srebrenica sind nur ein kleiner Teil dessen, was die Menschen so beunruhigt. Die größte Sorge und Angst bleibt jedoch ein erneuter Krieg auf eigenem Boden, da sie Putin-nahe Politiker*innen auf dem Balkan als offensichtliche Gefahrenträger*innen erachten. Darüber hinaus droht die wirtschaftliche und somit auch finanzielle Lage in Bosnien-Herzegowina aus den Fugen zu geraten: Lebensmittel wie Öl oder Mehl werden zur überteuerten Mangelware, die Benzinpreise befinden sich auf einem Rekordhoch. Der Unmut, die Angst und die Wut steigen von Tag zu Tag.

Was kann Bosnien in Berlin tun?

Bevor wir zu Antworten auf die Frage gelangen können, was Initiativen wie Bosnien in Berlin in dieser Situation tun können, muss ich noch kurz auf die oben skizzierten Trigger und Traumatisierungen eingehen. Die Initiator*innen und die Autor*innen unseres Buchprojektes waren größtenteils Kinder und Jugendliche, als der Krieg auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens entfacht wurde. Ihre Eltern sind diejenigen, die mit den Traumata leben (müssen). Trotzdem kann und darf hier von einem transgenerationalen Trauma gesprochen werden, da das Trauma bzw. die Traumatisierung auf drei unterschiedlichen Stufen festgesetzt werden kann:

  • Primär: man ist selbst und direkt, am eigenen Körper, von der Traumatisierung betroffen, als unmittelbarer Zeuge des Geschehenen oder bspw. durch die mündliche Mitteilung über ein traumatisches Ereignis (z.B. Tod einer nahestehenden Person);
  • Sekundär: man wird mit Traumatisierten persönlich konfrontiert, bspw. Ersthelfer*innen, Psycholog*innen oder sogar als Kinder von Traumatisierten;
  • Tertiär: dies betrifft vor allem diejenigen, die mit belastenden, traumatischen Erfahrungen konfrontiert werden (bspw. Journalist*innen oder Helfer*innen).

Viele, wenn nicht sogar alle Akteur*innen, nutzen das Buchprojekt als eine Möglichkeit, über die eigenen Erinnerungen an den Krieg, an die Flucht und ja, sogar das eigene Trauma, zu sprechen und zu schreiben. Viele haben bisher noch nie über die eigenen Kriegserlebnisse (öffentlich) gesprochen und nutzen diese Möglichkeit als eine Art „Therapie“, das sich von der Seele schreiben.

Psychotherapie und Schreiben – das ist beides sehr reflektierend. Das sind beides Berufe, die Anti-Pathos sind und die Ambivalenz zulassen. Die es normal finden, dass man Widersprüche in sich hat und aushalten muss. Und dass es ganz unmöglich ist, dass jemand die Wahrheit gefressen hat. (Helga Schubert, 2022)

Wie bereits erwähnt, vergessen viele, dass es vor dem Ukrainekrieg den Bosnienkrieg im Herzen Europas gab. Auch deshalb ist es äußerst wichtig, eine lebendige Erinnerungskultur zu gestalten, die nicht nur an bestimmten Jahrestagen aufflammt und dann wieder in Vergessenheit gerät. Dieser Krieg hat unsere Leben bestimmt und unsere Schicksale geprägt. Viele Betroffene werden bzw. sind heute retraumatisiert, wenn sie auf die Geschehnisse in der Ukraine blicken. Mit unserem Buchprojekt möchten wir einen Beitrag zur Aufarbeitung des Krieges und der damit verbundenen Traumata leisten. Wir sind der Meinung, dass mit Bosnien in Berlin ein wichtiger Beitrag zur Erzeugung eines Bewusstseins für die Auswirkungen des Bosnienkrieges geschaffen werden kann und muss, damit ein friedvolles Leben für die zukünftigen Generationen möglich sein kann.  

Unterschiedliche Verbände, Vereine und Initiativen haben aus der damaligen Zeit gelernt und erkannt, dass wir heute an einem ähnlichen, aber dennoch anderen Punkt stehen. Die Traumata der Geflüchteten werden von Anfang an ernst genommen. Das Thema Integration wird ganz groß geschrieben. Hilfe und Unterstützung wird von unterschiedlichen Seiten angeboten und wahrgenommen. Initiativen wie Stiftung Überbrücken und südost Europa Kultur e.V. sind da, um den Geflüchteten auf sozialer und psychologischer Ebene zu helfen und sie zu unterstützen. Die Humboldt-Universität zu Berlin, und dort im Besonderen das Institut für Slawistik und Hungarologie, hat ein großes Netzwerk an herkunftssprechenden Helfer*innen aufgebaut, die über die neuesten Entwicklungen informieren und Unterstützung auf unterschiedlichen Ebenen anbieten.

Ein Krieg ist immer sinnlos, ein Krieg bringt immer unschuldige Opfer. Als Menschen sind wir jedoch da, um aus unseren Fehlern zu lernen und auf ein besseres morgen zu hoffen.

[Coverbild: Gemma Terés Arilla. Panel „Bosnien 1992-Ukraine 2022: Zivilgesellschaftliche Reaktionen auf den Krieg.“ Berlin, 7. April 2022.]

Die Veranstaltung am 7.4. ist Teil der Reihe Grenzenlose Solidarität?, die von Balkanbiro e.V. koordiniert wird und in Partnerschaft gemeinsam von der Stiftung Schüler Helfen Leben, der Südosteuropa-Gesellschaft, der Stiftung Überbrücken, dem Integrationsverein ImPULS e.V. Gropiusstadt, der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Blog- und Buchprojekt Bosnien in Berlin umgesetzt wird.

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