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Filmreihe in Berlin: Materialität der Erinnerungen – (Post-)jugoslawische Erfahrungen

Im Februar und März 2022 wird in Berlin die Filmreihe Materialität der Erinnerungen: (Post-)jugoslawische Erfahrungen gezeigt, die von Borjana Gaković und Madeleine Bernstorff kuratiert wird. Die Reihe ist Teil des Programms SİNEMA TRANSTOPIA des Kunst- und Kulturraums bi’bak. SİNEMA TRANSTOPIA untersucht Kino als sozialen Diskursraum, als Ort des Austauschs und der Solidarität. Die kuratierten Filmreihen bringen diverse soziale Communities zusammen, verknüpfen geographisch entfernte und nahe Orte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und dezentrieren einen eurozentristischen Blick durch transnationale, (post-)migrantische und postkoloniale Perspektiven. Nach freundlicher Genehmigung durch Malve Lippmann von bi’bak veröffentlichen wir hier das Programm der gesamten Filmreihe und verweisen außerdem auf die Homepage von bi’bak, wo auch Tickets gebucht werden können. Die Reihe beginnt am 24. Februar 2022 und endet am 18. März 2022.

Kriege hinterlassen anhaltende Spuren, individuelle und kollektive, in Körpern und in Landschaften. Traumata setzen sich fort. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren haben sich tief in das Bewusstsein der Überlebenden wie ihrer Nachfahren eingeschrieben.

In den Kinematografien der ex-jugoslawischen Staaten und in der Diaspora entstanden in den letzten Jahren und Jahrzehnten vermehrt Filme zu spezifischen traumatischen Ereignissen, zur Verschleppung des Verschwiegenen, die sich unterschiedlichster Strategien der reflexiven Auseinandersetzung mit von Gewalt geprägten Gesellschaften bedienen.

Die für MATERIALITÄT DER ERINNERNUNGEN – (Post)jugoslawische Erfahrungen zusammengestellten Filme werden, ob bewusst oder eher implizit feministisch aufgeladen, zu Medien der Reflexion und der Verarbeitung und verändern damit das Leben nicht nur der Beteiligten. Die radikal autobiografische Perspektive ist nicht nur die Methode der beiden Eröffnungsfilme, sondern zieht sich durch die gesamte Filmreihe.

Die Reihe wird kuratiert von Borjana Gaković und Madeleine Bernstorff und wird an acht Abenden im SİNEMA TRANSTOPIA von Gesprächen begleitet.
Das komplette Programm MATERIALITY OF MEMORIES auch auf unserer Webseite

Borjana Gaković ist Film- und Medienwissenschaftlerin. Sie ist als freie Autorin und als Dozentin im Bereich der Film- und Kinokultur sowie als Kuratorin meist historischer Kinoprogramme tätig, oft mit Bezug auf Feminismen in der Filmgeschichte. 

Madeleine Bernstorff lebt in Berlin, konzipiert Filmprogramme (oft in Kollaboration) und arbeitet als Lehrende und Autorin, z.B. von Transnationales Lernen an der dffb. 2016/2017 hat sie mit der Gruppe SPOTS die Produktion von 23 kurzen Videospots NSU-Komplex auflösen! betreut.
Donnerstag, 24.02.2022 20:00
Im Anschluss Gespräch mit Lidija Zelović 

Kako sam zapalio Simona Bolivara
The Fuse: Or How I Burned Simon Bolivar

Igor Drljača, Kanada 2011, 9 Min.

My Own Private War 
Lidija Zelović, Niederlande 2016, 57 Min.Igor Drljača wünschte sich als 9-jähriger die Schule weg, und glaubte – als sie zerbombt wurde – so den Krieg in Bosnien-Herzegowina 1992 verursacht zu haben. Sein Film The Fuse: Or How I Burned Simon Bolivar lebt von eindrücklichem Amateurmaterial. In My Own Private War stellt sich die im Amsterdamer Exil lebende Journalistin Lidija Zelović ihren eigenen traumatischen Erfahrungen, um „den Krieg in ihrem Kopf zu beenden“. Sie taucht in die Untiefen des Konflikts, in endlosen Diskussionen mit Familienmitgliedern, alten Freund*innen und Kolleg*innen, mit denen, die dageblieben waren, die nach „50 Jahren Bruderschaft und Einigkeit“ in den Dynamiken des Krieges zu Täter*innen wurden. Lidija Zelović studierte jugoslawische Literatur an der Universität Sarajevo und arbeitete als Fernsehmoderatorin. Nach Ausbruch des Krieges im Jahr 1992 begann sie ein Filmstudium an der Universität Amsterdam. Sie arbeitete als Journalistin in verschiedenen Kriegsgebieten und führte Regie und produzierte Dokumentarfilme für niederländische, britische und deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten.


Freitag, 25.02.2022 20:00

Im Anschluss Gespräch mit Marta Popivoda

Genosse Tito, ich erbe
Comrade Tito, I Inherit

Olga Kosanović, Deutschland/Österreich 2021, 27 Min.

Jugoslavija – kako je ideologija pokretala naše kolektivno telo
Yugoslavia – How Ideology Moved Our Collective Body

Marta Popivoda, Serbien/Frankreich/Deutschland 2013, 62 Min.

Die Österreicherin Olga Kosanović soll eines Tages das Gartenhaus ihrer Großeltern in Serbien erben, das zugleich die sozialistische Vergangenheit ihrer Familie mit einzuschließen scheint. Im Schlafzimmer kürt ihre Mutter sie zur Pionierin. Genosse Tito, ich erbe stellt die Frage, was sich verändert hat und was zu erhalten wäre, eingebettet in die verschiedenen Migrationserfahrungen. In Jugoslavija – kako je ideologija pokretala naše kolektivno telo nähert sich Marta Popivoda dem Erbe Jugoslawiens durch eine aufwendige Montage von Archivmaterial und analysiert historische Pionierrituale und Massenchoreografien zur Ehrung Titos als Mechanismen einer Ideologie, die sich schließlich selbst erschöpft.
Marta Popivoda ist Filmemacherin, Videokünstlerin und Wissenschaftlerin. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich mit Erinnerung und Geschichte, kollektiven und individuellen Körpern sowie Ideologie und Alltagsleben, mit einem Fokus auf antifaschistische und feministische Potenziale des jugoslawischen sozialistischen Projekts. Sie ist Teil des Kollektivs TkH (Walking Theory).

Donnerstag, 03.03.2022 20:00
Im Anschluss Gespräch mit Ana Bilankov

U ratu i revoluciji
In War and Revolution

Ana Bilankov, Kroatien 2011, 15 Min.

Goli
Naked Island

Tiha K. Gudac, Kroatien 2014, 75 Min.

Die Gründe für die Lücken der Geschichtsschreibung sind vielfältig. In War and Revolutionverhandelt die Verbannung der Bücher im Kroatien der 1990er Jahre als versuchte Auslöschung unerwünschter kollektiver Erinnerung an die sozialistische Vergangenheit. In Naked Island ist es das traumatisierte und vernarbte Schweigen in der eigenen Familie, das die Auseinandersetzung mit der dunklen Seite des jugoslawischen Realsozialismus, der Verfolgung als „Volksfeinde“ deklarierter Personen, für lange Zeit unmöglich gemacht hat.
Ana Bilankov arbeitet als Künstlerin mit Fotografie, Video, experimentellem Film und Installationen. Sie war Stipendiatin für diverse Atelier-Aufenthalte im Ausland und stellte an zahlreichen Ausstellungen aus. Ihre preisgekrönten Filme wurden an einer Vielzahl von Film- und Videofestivals gezeigt.


Freitag, 04.03.2022 20:00

Crvene gumene čizme
Red Rubber Boots

Jasmila Žbanić, Bosnien und Herzegowina 2000, 18 Min.

Dečko kojem se žurilo
The Boy Who Rushed

Biljana Čakić-Veselič, Kroatien 2001, 52 Min. 

Jasmila Žbanić begleitet in Red Rubber Boots Jasna, deren neun Monate alte Tochter und vier Jahre alter Sohn im Bosnienkrieg von serbischen Soldaten entführt worden waren, auf ihrer verzweifelten Suche zu den nach dem Krieg geöffneten Massengräbern. Ihre Körper müssten inzwischen verwest sein, sagt sie in einer kaum erträglichen Schlüsselszene, aber ihr Sohn Amar hatte rote Gummistiefel an, die könnten überdauert haben. In The Boy Who Rushed wird Biljana Čakić-Veseličs im Kroatienkrieg verschwundener Bruder Ivan in vielfältigen Erinnerungen als Person rekonstruiert. Wie lebt er darin weiter? Und wie gehen die Überlebenden in ihrem Alltag mit den materiellen Spuren der Gewalt um? 

Donnerstag, 10.03.2022 20:00

Transferred Memories – Embodied Documents
Ana Hoffner ex-Prvulović*, Österreich 2014, 15 Min.

Dobra žena
A Good Wife

Mirjana Karanović, Serbien 2016, 94 Min.

Ana Hoffner ex-Prvulović* befragt in ihrer Videoinstallation Transferred Memories – Embodied Documents die Konfrontation mit grausamen Bildern, wer sie sich ansieht, welche affektive Reaktion sie evozieren. In ihrem Regiedebut Dobra žena spielt die bekannte Schauspielerin Mirjana Karanović eine gutsituierte Ehefrau, die zwischen Putzen, Kochen und Familie-Zusammenhalten eine VHS-Kassette findet, die ihren liebevollen Ehemann als Kriegsverbrecher entlarvt: Filmische Fiktion als Intervention gegen das Schweigen von Mitwisser*innen. 

Freitag, 11.03.2022 20:00

Widmung für ein Haus 
Irena Vrkljan, Deutschland 1966, 5 Min.

Za one koje ne mogu da govore
For Those Who Can Tell No Tales

Jasmila Žbanić, Bosnien und Herzegowina 2013, 72 Min.

Irena Vrkljan, jugoslawische Filmstudentin an der DFFB, bespricht und umkreist in Widmung für ein Haus die Kriegsspuren in einem Haus in der Potsdamer Straße im November 1966. In For Those Who Can Tell No Tales wird der „Abenteuerurlaub“ der australischen Performance-Künstlerin Kym Vercoe nach Višegrad an die „Brücke über die Drina“ zu einer Begegnung mit dem Grauen. Ein Tourismushotel entpuppt sich als ehemaliges Vergewaltigungslager. Die Filmemacherin und die Performerin erzeugen hier einen aktiven filmischen Raum für Trauer in der ignoranten Nachkriegsgesellschaft der Täter. 

Donnerstag, 17.03.2022 20:00
Mit einer Einführung von Merima Omeragić

Annäherung
Sonya Schönberger, Deutschland 2020/2021, 8 Min.

Gorke trave
Zeugin aus der Hölle

Živorad Mitrović nach dem Drehbuch von Frida Filipović, YU/BRD 1966, 83 Min.

Sonya Schönberger begleitet in Annäherung die mikroskopische Untersuchung ephemerer Spuren des NS-Zwangsarbeitslagers am Tempelhofer Feld. Die KZ-Überlebende Jüdin Lea Weiss, gespielt von Irene Papas, ist eine „Zeugin aus der Hölle“. Ihre Aussage ist dringend erforderlich, um einem davon gekommenen Täter, Karrierist im Nachkriegsdeutschland, in den 1960er Jahren den Prozess zu machen. Sie weiß, dass sie den wiederkehrenden Erinnerungen, der Rekonstruktion der erfahrenen Leiden nicht gewachsen sein wird. Und sie wird von Handlangern des Täters terrorisiert.
Merima Omeragić arbeitet am Center for Interdisciplinary Studies und ist Doktorandin an der Philosophischen Fakultät der Universität Sarajevo. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt auf Film, Literatur und Kunst von Frauen. Sie beschäftigt sich mit Feminismus, intersektionaler Theorie, sowie Transnational-, Gender- und Queer-Studies.

Freitag, 18.03.2022 19:00
Im Anschluss Gespräch mit Gaby Babić

Kad umrem, radite šta hoćete
When I Die, You Can Do What You Want 

Adela Jušić, Bosnien und Herzegowina 2011, 19 Min.

Before the Fall There Was No Fall, Episode 2: Surfaces 
Anna Dasović, Niederlande/Österreich 2020, 20 Min.

Velika očekivanja
Great Expectations

Renata Poljak, Frankreich/Kroatien 2005, 17 Min

Die Videoinstallation When I Die, You Can Do What You Want von Adela Jušić zeigt den frontalen Blick aus dem faltenreichen, schmerzlich bewegten Gesicht ihrer Großmutter in Zeitlupe, während ihr die Künstlerin die Haare färbt. Auf der Tonspur spricht Jušić den Redefluss der inzwischen verstorbenen Großmutter als Vergleich zweier überlebter Kriege nach. In Before the Fall There was No Fall, Episode 2: Surfaces untersucht Anna Dasović die nicht für die Öffentlichkeit gedachten Wandzeichnungen holländischer UN-Soldaten in unmittelbarer Nähe von Srebrenica. Renata Poljak erzählt in Great Expectations von der Nachkriegsarchitektur an der kroatischen Küste und wie diese für ein neues gewalttätiges Wertesystem steht, in dem Kapitalismus, Skrupellosigkeit und Nationalismus zu sich kommen.

Gaby Babić, geboren 1976 in Frankfurt a. M., ist eine Programmmacherin und Kulturarbeiterin. Sie leitet die Kinothek Asta Nielsen und Remake –  Frankfurter Frauen Film Tage. Ihre Arbeit fokussiert auf Film und Geschichte, Kritische Theorie, Migration, Osteuropäisches Kino, Feministische Filmarbeit, Antirassismus und Antifaschismus.

Ab 21:00 Uhr

O jednoj mladosti
Once Upon a Youth

Ivan Ramljak, Kroatien 2021, 78 Min.Kroatien in den 1990ern: Marko fotografiert, Ivan will filmen, gemeinsam machen sie Radio, spielen Computerspiele, hören Fela Kuti, fahren herum in ihrem schrottreifen R4. Kroatien heute: Ivan lebt. Marko nicht mehr. Mit den Fotos von Marko entsteht 13 Jahre nach dessen Tod ein gemeinsamer Film mit Off-Erzählungen der Schwester, der damaligen Clique, Freundinnen. Eine Hommage an eine Freundschaft, an Unbeschwertheiten und Abgründe vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Krieges, der hier jedoch kein Thema ist.
Wie lässt sich ein neues Kino in der transnationalen Gesellschaft gemeinsam gestalten?

SİNEMA TRANSTOPIA untersucht Kino als sozialen Diskursraum, als Ort des Austauschs und der Solidarität. Die kuratierten Filmreihen bringen diverse soziale Communities zusammen, verknüpfen geographisch entfernte und nahe Orte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und dezentrieren einen eurozentristischen Blick durch transnationale, (post-)migrantische und postkoloniale Perspektiven.

SİNEMA TRANSTOPIA steht für ein anderes Kino, das sich zugleich einer lokalen und einer internationalen Community verpflichtet sieht, das Kino als wichtigen Ort gesellschaftlicher Öffentlichkeit versteht, das filmhistorische als erinnerungskulturelle Arbeit betrachtet und sich für die Vielfalt der Filmkultur und Filmkunst einsetzt. Im Rahmen der Pioniernutzung der stadtpolitischen Initiative Haus der Statistik schlägt das Kino-Experiment eine Brücke zwischen urbaner Praxis und Film und kreiert ein Ort, der Zugänge öffnet, Diskussionen anregt, weiterbildet, bewegt, provoziert und ermutigt.
 
Alle Filme werden in Originalsprache mit englischen Untertiteln gezeigt und von Gesprächen begleitet. Karten können online über die Website von bi’bak erworben werden.
Bildquelle: bi’bak

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