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Emina Haye: Wie meine Kindheit endete

Unsere Autorin Emina Haye wurde in Bosnien-Herzegowina geboren und flüchtete mit ihrer Familie im Zuge des Bosnienkrieges nach Deutschland. Sie hat jahrelang als Dolmetscherin bei verschiedenen Berliner Vereinen und Institutionen in der Psychotherapie für Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien gearbeitet.

Unsere Autorin Emina Haye wurde in Bosnien-Herzegowina geboren und flüchtete mit ihrer Familie im Zuge des Bosnienkrieges nach Deutschland. Sie hat jahrelang als Dolmetscherin bei verschiedenen Berliner Vereinen und Institutionen in der Psychotherapie für Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien gearbeitet.

Bild: Emina Haye Privatarchiv, aufgenommen ca. 1982.

In meinem semifiktionalen Personal Essay werde ich über das abrupte Ende meiner Kindheit und über meine Kindheitserinnerungen vom Kriegsbeginn schildern. Dabei werde ich auf Punkte wie Erwachsenwerden, Enttäuschung, emotionale Traumata und Vertrauensverlust schreiben.

Geboren und aufgewachsen in der Sozialistisch Föderativen Republik Jugoslawien, in der Posavina Bosnien-Herzegowinas, blicke ich wehmütig auf eine wundervolle Kindheit. An eine Kindheit mit vielen Freunden, mit denen ich die unterschiedlichsten Feste gefeiert habe, an viele Ausflüge und Reisen, an Momente voller Geborgenheit und Liebe. Als die ersten Unruhen auf dem Gebiet des damaligen Jugoslawiens anfingen, war ich zwölf Jahre alt. Ich kann mich erinnern, dass wir in der Familie tagtäglich die Geschehnisse in Slowenien und dann Kroatien im Fernsehen verfolgten und dass ich keinen Augenblick daran dachte, dasselbe könnte in Bosnien passieren und uns auch erwischen. Ich fühlte mich nach wie vor sicher und geborgen. Meine Eltern sind jeden Tag zur Arbeit gefahren, meine jüngere Schwester und ich sind zur Schule gegangen.

Doch 1991 gab es einen schwerwiegenden und schicksalsträchtigen Wechsel: ein Zensus wurde durchgeführt. Bis dahin wusste ich nicht, welcher Ethnie oder Konfession ich zugehörig bin, da das keine Rolle spielte und nie darüber gesprochen wurde. In meiner Familie und meinem Freundeskreis wurden alle (religiösen) Feste gleichermaßen und gemeinsam gefeiert. Doch dieses Jahr, 1991, veränderte von heute auf morgen plötzlich alles. In der Grundschule sollte ich plötzlich angeben, „wer“ und „was“ ich denn sei. Das verwirrte mich anfangs enorm, denn für mich war nur eines klar: Ich bin Jugoslawin, Titos stolze Pionierin, nicht mehr und nicht weniger, doch alleine mein Vorname reichte aus, um mich in irgendwelche (plötzlich auftretenden) Schubladen zu stecken und mir die eine oder andere Identität zuzuschreiben und mich so zu stigmatisieren. Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin und die ein fester Bestandteil meines Lebens waren, distanzierten sich plötzlich und fanden teilweise Ausflüchte, warum sie nicht mehr mit mir befreundet sein durften oder konnten. Als 12jährige konnte ich das nicht verstehen, weil es so surreal war, aber je mehr Zeit verging, desto klarer legten sich die Puzzleteile meines bis dahin unbeschwerten Lebens zusammen.

Im Mai 1992 mussten meine Familie und ich unsere Heimatstadt aufgrund des sich mittlerweile rasch ausbreitenden Krieges mehrfach verlassen. Meine Eltern wollten meine Schwester und mich in Sicherheit wiegen, glaubten aber fest daran, dass wir das Land nicht verlassen müssen. So haben wir unser Haus, unsere Freunde und Verwandte, unsere Stadt mehrfach für einige Wochen verlassen, um nach jedem Mal wieder zurückzukommen, in der Hoffnung, dass es das war. Bevor meine Schwester und ich das letzte Mal in unsere Heimatstadt und in unser Haus zurückgekehrt sind, haben unsere Eltern tagelang alles für uns vorbereitet. Ich verstand damals nicht, was es da vorzubereiten gab, meine Mutter hatte es mir Wochen später erzählt. Unser sehr zentral gelegenes Haus diente den paramilitärischen Einheiten als Stützpunkt, da sie einerseits von dort sehr schnell zum Hauptaussichtspunkt der Stadt gelangen konnten, von wo sie ihre Angriffe planten und durchführten, und andererseits konnten sie von unserer Straße aus in zwei unterschiedliche Richtungen die Stadt verlassen bzw. in eines der Nachbarorte eindringen. Meine Eltern haben aus unserem Haus damals einen Container voll Munition, Uniformen, paramilitärischen Badges und sogar Waffen zusammengetragen. Die Zimmerwände waren mit nationalistischen Parolen und Symbolen vollgeschmiert, das Mobiliar und die Elektrik im und am Haus wurde größtenteils zerstört. Die Fassade war mit Granateneinschusslöchern übersät, der Garten war voll mit leeren Patronenhülsen. Meine Eltern wollten verhindern, dass meine Schwester und ich all das sehen und haben Tag für Tag alles saubergemacht, die Schmierereien weggemacht, den Müll weggetragen, die Patronenhülsen entsorgt. Das einzige, was sie nicht wegmachen konnten, waren die Einschusslöcher, die sogar 20 Jahre später noch sichtbar waren.

[Titelbild: Emina Haye, 2018]

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