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Duldungen, Abschiebungen und eine epochale Ungerechtigkeit des Schicksals: Lady Di ist tot.

Unser Autor Thomas Schad hat als Teenager in den 1990er Jahren prägende Beobachtungen gemacht: selbst privilegiert durch seine deutsche Staatsangehörigkeit, erlebt er, wie seine Verwandten aus Bosnien fliehen, geduldet und anschließend wieder abgeschoben werden. In seinem Beitrag nimmt er die Erlebnisse dieser Zeit zum Anlass, um seinen eigenen Weg als „Helfer“ nach Sarajevo kritisch zu reflektieren.

Ich erinnere mich noch ziemlich genau an das epitomische Drama rund um den Tod von Diana, Princess of Wales, besser bekannt als Lady Di oder Princeza Dijana. Ich war damals gerade siebzehn Jahre alt und dabei, ein unerhörtes Abenteuer zu erleben. Ohne die Erlaubnis meiner Mutter abzufragen — die sich gerade im Urlaub befand und auch gar nichts ernsthaft hätte unternehmen können — jedoch in konspirativer Absprache mit meinem Onkel Ferdo, bin ich gegen Ende der bayerischen Schulferien in einen kleinen, zugequalmten LKW gestiegen. Dieser war beladen mit dem Hausrat meines Onkels, den ausgerechnet ich – als einziges Familienmitglied, ohne meinen Onkel – von Deutschland nach Kroatien begleiten durfte. Ich war sofort begeistert von dem Vorhaben! Die Fahrerkabine teilte ich mir mit zwei Fahrern, die offenbar das Vertrauen meines Onkels genossen. Die abenteuerliche Anreise trug sich unmittelbar vor dem dramatischen Tod von Lady Di (31. August 1997) zu, welcher das Abenteuer „Ich (fast) allein in der Lika“ sowie die anschließende Bosnienfahrt im September 1997 permanent überschatten würde.


Ein Blick aus der Fahrerkabine auf das Grenzgebiet zwischen Kroatien und BiH, kurz vor dem Abschiebeziel in der kroatischen Gemeinde Plitvička jezera. Bildquelle: Thomas Schad, 1997.

Mein Onkel und seine Familie waren gerade abgeschoben worden: Der Krieg ist vorbei. Geht jetzt wieder zurück, woher ihr gekommen seid. In der Welt der fränkischen Dörfer, in der ich die letzten siebzehn Jahre aufgewachsen war, herrschte eine Zeit der ungültig gewordenen Duldungen, der massenhaften Schwarzarbeit und der fragwürdigen Eheschließungen, die unter anderen Umständen und Staatsangehörigkeiten wahrscheinlich nicht einmal erwogen worden wären. Ständig galt es, auch für uns Kinder, irgendwelche übergriffige Polizisten schon am Hoftor abzuwimmeln. Nein, der Mirko ist nicht da, Tschüss und lassen Sie uns bitte in Ruhe.

Mein Onkel Ferdo war in jeder Hinsicht eine Ausnahme, denn er und seine Freundin verhielten sich wie verliebte Teenager: für ihre unvernünftige, aber von allen anderen bewunderte Liebesbeziehung bezahlten sie und ihre Kinder mit der Abschiebung an einen ihnen unbekannten Ort in Kroatien, wo niemand von ihnen herkam. Ich sollte den Hausrat eine Woche lang am Abschiebeziel hüten – mehr nicht. So konnten er, seine Freundin, ihre zwei älteren Töchter aus erster Ehe sowie das gerade zur Welt gekommene, gemeinsame Baby — heute eine erwachsene Frau — sich um den letzten Abschiebekrempel kümmern. Sie waren in zwei verschiedenen Bundesländern geduldet: sie eine Woche länger als er. Sie würden eine Woche später dem Hausrat und mir, dem Neffen, nachreisen. Meine Mutter würde mein sofortiges, begeistertes Mitmachen bei dieser konzertierten Aktion ihres abgeschobenen Bruders irgendwann später so kommentieren, wie sie das nach all meinen Selbstermächtigungen tat: Er hat schon immer nur das gemacht, was er will.


Der Autor (links im bunten T-Shirt) mit dem gesammelten Hausrat vor dem Haus am Abschiebeziel. Bildquelle: Thomas Schad, 1997 (Aufnahme durch unbekannt, wahrscheinlich Viktor Pendić).

Die Fahrt im schrottigen LKW zog sich hin und nahm außerdem einen Umweg über Velika Ludina bei Zagreb, wo sich andere Verwandte aus Bosnien niedergelassen hatten. Unser LKW wurde von ausnahmslos allen anderen Vehikeln überholt. Ich erinnere mich an einen sich endlos hinziehenden Autobahnhang im Alpenvorland, irgendwo beim Chiemsee, wo der kroatische Fahrer mit schmierigen Frauengeschichten prahlte. Wir drohten, stehen zu bleiben — und die Alpen lagen doch erst noch vor uns! Aber irgendwie ging alles gut. Noch in der späten Nacht spuckten uns die Alpen am Ende des Karawankentunnels bei Jesenice in die Jugosphäre hinaus, von wo der LKW erst einmal gemächlich das Sava-Tal hinab rollen konnte.

In Kroatien strahlte die Sonne spätsommerlich, während sich der Herbst bereits durch Nebelschwaden ankündigte. Hier und da drohten abgebrannte Häuser mit unerzählten, kriegerischen Familiengeschichten. Das vorübergehende Haus meines Onkels am Abschiebeziel – eher eine Hütte – stand am Rand eines gehen gelassenen Urwalds im kontinentalen Inneren Kroatiens. Dort sagen sich Bär und Wolf Gute Nacht, wie man auch dem Logo des Nationalparks entnehmen konnte, auf dem sich ein Bär befindet; eine wahre Vukojebina, wie man auf Jezik* sagen kann. Ich habe allerdings nie einen Bären oder einen Wolf zu Gesicht bekommen. Und obwohl ich sehr danach Ausschau hielt, habe ich auch keine der von allen so panisch gefürchteten Schlangen entdecken können. Am meisten gefürchtet — noch vor dem grausamen, endemisch vorkommenden Luftzug promaja — wird der sogenannte Poskok, der den Menschen angeblich grundlos plötzlich ins Gesicht springt, zubeißt und sofort tödlich vergiftet.

Mir wurde geheißen, die Tür des kargen Hauses immer gut verschlossen zu halten, wegen all der Tiere. Der Wald hatte wohl noch allerhand anderes, ungeheuerliches Geziefer auf Lager. Ich nahm mir ohnehin vor, nicht in den Wald zu gehen — allerdings wegen der Minen, die mir damals wie die unheimlichsten, brutalsten menschlichen Erfindungen schlechthin erschienen. Auch Lady Di hatte sich in jenen Jahren öffentlich gegen den Einsatz von Personenminen engagiert und war dazu mehrfach in der Jugosphäre aufgetreten. Eine Ausnahme meiner Waldscheu bildete ein Ausflug in den Nationalpark Plitvice. Diesen würde man so leer wie damals wahrscheinlich erst während der Coronapandemie, also mehr als 20 Jahre später, wieder antreffen können.

Das Schließen der Haustür war übrigens eine sehr vernünftige Anweisung, wenn sich auch die Megafauna der Wälder nicht als Problem herausstellen sollte: Eines Tages muhte zu meinem Schrecken eine ausgewachsene Kuh laut durch den Flur. In Bosnien und auch in diesem Teil Kroatiens lassen die Menschen bis heute ihre Kühe frei umherlaufen, bis sie am Abend von selbst in die Dörfer zurückkehren. Die Kühe im Tal meiner Oma hießen oft Rumenka (die Rote), Crna (die Schwarze) oder wurden beim Namen einer ungeliebten Verwandten gerufen. Sie wussten genau, wann es Zeit war, in die Dörfer zurückzutrotten, wo die Menschen auf sie warteten, um sie über Nacht in kleine Ställe aus Holzbrettern und -Schindeln zu sperren. Ich war mir nicht sicher, ob derart souveräne Kühe Menschen töten würden, wenn diese versuchen sollten, eine der ihren aus zugerümpelten Hausfluren zu vertreiben. Irgendwie ist die fremde Kuh schließlich von alleine wieder rückwärts hinausgetreten. Ich war erleichtert.


Es handelt sich in dieser Geschichte keineswegs um eine fiktive Kuh: genau diese Kuh war kurz vor der Aufnahme dieses Bildes rückwärts wieder aus dem provisorischen Flüchtlingshaushalt getreten. Bildquelle: Thomas Schad, 1997.

Abgesehen von der Kuh und den im Hintergrund anwesenden, nicht gesichteten Schlangen, Bären und Wölfen war es eine recht einsame Woche für einen siebzehnjährigen Abenteurer. Im Nachhinein kommt mir das Buch „Walden oder ein Leben in den Wäldern“ von Henry David Thoreau in den Sinn. Doch im Gegensatz zu Thoreau waren mir jeder menschliche Kontakt, jedes Thema willkommen – auch wenn jede Kommunikation von meinen damals schlechten Jezik* Kenntnissen stark beeinträchtigt war. In dieser Woche konnte auch niemand Deutsch, was unter allen mir damals bekannten Bosnier*innen meiner Verwandtschaft und ihres riesigen Bekanntenkreises sonst eigentlich immer der Fall war.

Ich hatte in der Woche am Waldrand hauptsächlich mit drei Personen zu tun: mit einem Mann namens Boro, mit einer vereinsamten Nachbarin namens Kata, und mit dem Verkäufer an der Tankstelle, die etwa 300 Meter vom Waldrand entfernt an der Magistrale in Richtung Dalmatien lag. Boro war mit meinem Onkel befreundet, und er war ebenfalls unfreiwillig aus Bosnien als Flüchtling in diesen unwirtlichen Ort gekommen. Seine Aufgabe war es, ab und zu vorbei zu kommen, um zu sehen, ob mich nicht vielleicht eine Schlange gebissen hatte. Die Nachbarin Kata, eine einheimische Kroatin aus der Lika, hatte stets einen zu Tode betrübten Blick. Sie wollte regelmäßig kava mit mir trinken, was so eine Art soziales Highlight des Tages war; davor bekam ich außerdem eine sinnvolle Aufgabe: sie schickte mich runter zur Tanke an der Magistrale, um Zigaretten für sie zu kaufen, welche sie an der Kette rauchte. Sie lebte in unübersehbarer Armut und war mit einem nie anwesenden Mann verheiratet, der ihr zufolge überhaupt nichts taugte. On ništa ne valja.


Korenica im Spätsommer 1997. Bildquelle: Thomas Schad.

Dann kam eines Tages Boro bestürzt zu mir; es muss der 31. August 1997 gewesen sein, denn die eigentliche Katastrophe hatte sich kurz nach Mitternacht ereignet. Die Kunde hatte sich rasant verbreitet. Boro musste mich über diese katastrophale Nachricht unbedingt informieren, von der ich an meinem struppigen Waldrand — ohne Fernsehen, ohne Internet, ich hatte noch nicht einmal Radio — sicher noch gar nichts mitbekommen hatte. Princeza Dijana! Princeza Dijana je mrtva! (…) Nesreća (…) – Das musste ich doch unbedingt verstehen: Prinzessin Diana! – Aber nein, ich stand wirklich völlig auf dem Schlauch: Princeza Dijana? Warum Prinzessin? Gab es in Kroatien etwa eine Prinzessin?Tot? Was hat das mit uns zu tun? Ich weiß nicht mehr, über welchen Eselsbrücken die Dämmerung dann einsetzte. Aber irgendwann war auch mir klar, dass es die Lady Di getroffen hatte: Diana Spencer.

And I was not so moved.

Boro hingegen, die schnell hinzu geeilte Nachbarin Kata, die Leute von der Tankstelle, die Titelseiten der dort verkauften Zeitungen der folgenden Tage: alle waren zutiefst bestürzt. Wie konnte das sein? Das durfte nicht sein! Princeza Dijana! Einfach mit einem Auto gegen die Wand gerast — und jetzt einfach tot?!

Es hatte sich eine epochale Ungerechtigkeit des Schicksals zugetragen, welche die Menschen auf für mich rätselhafte Weise mitriss. Es gab, soweit ich es verstehen konnte, gar kein anderes Thema mehr. Disruptives Moment. Ich verstand nicht nur nicht, was genau da besprochen, gewusst, spekuliert, verdächtigt, befunden und gemeint wurde: ich verstand nicht, dass dieses — bei allem Respekt für die Verunglückten — gewissermaßen boulevardeske Thema epitomisch für ein sehr viel größeres, durch und durch ernstes Thema stand, dass hier tatsächlich alle persönlich betraf.

Diese Epitome, ein Ausschnitt eines größeren Kontexts, der in einen anderen lappt, war das Thema der edlen Helferin; die öffentliche Anteilnahme und zur Schau getragene Trauer war gleichzeitig eine, wenn auch immaterielle, Möglichkeit etwas zurückzugeben. Auf eine ganz ähnliche Art würde diese Epitome von Nehmen und Geben, Helfen und Zurückhelfen auch im Esmeralda-Kult wiederkehren, der sich rund um einen mexikanischen Telenovela-Star entfaltete, der in den öffentlichen Meinungen der Jugosphäre in elysische Sphären aufgestiegen war; im Esmeralda-Kult würde es zu einem ganz konkreten Zurückhelfen bosnischer Landfrauen für die blinde Esmeralda kommen. Darüber wird noch ausführlicher die Rede sein.

Mir war damals gar nichts klar. Allein aus sprachlichen Gründen habe ich mich damals zwar nicht laut lustig über den Dijana-Kult gemacht — aber ich blickte belustigt auf derlei Pop herab, und einige Jahre später würde ich mit einer Freundin vor eine Foto-Geschäft in der Baščaršija Sarajevos stehen, wo wir gemeinsam über die dort ausgestellten Fotos des Esmeralda-Kults lachen würden. Aus der sich mit jedem weiteren Besuch in Bosnien oder Kroatien zunehmend entzaubernden Warte meines siebzehnjährigen Weltwissens — frei von direkter Kriegserfahrung — hatte ich damals ein ernsthaftes Verständnisproblem. Mit meinem eigenen, späteren Helfen bei Schüler Helfen Leben schien mir das symbolische Geben und Nehmen der Dijana- und Esmeralda-Kulte nichts zu tun zu haben.


Der Autor grillt Ćevapis für dazu gekommene Verwandte am Ende der Woche allein am Waldrand. Bildquelle: Thomas Schad, 1997 (Aufnahme duch unbekannt, wahrscheinlich Viktor Pendić).

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