Lana Bastašić hat nicht nur durch ihr letztes Buch Fang den Hasen (s. Rezension von Thomas Schad) für Furore gesorgt. Sie schickt den Leser mittels Sprache und Erinnerungen zurück in ein Land, das es so nicht mehr gibt. Am 24. Juni hat sie im Rahmen der ZOiS-Lesung mit dem Titel Forgotten Diversity gemeinsam mit Andrey Kurkov aus ihrem Buch gelesen und darüber diskutiert: https://fb.watch/6xtFDySzTm/
Im Rahmen des Literatur- und Übersetzungskurses in der BKMS-Sprachpraxis an der HU Berlin habe ich mit meinen Student*innen eine andere Seite Lana Bastašićs entdeckt. Es handelt sich um ein Essay, verfasst als Antwort auf Danilo Kiš’s Homo poeticus. Hier nun meine Übersetzung des Essays mit dem Titel Tražiti kaput (Nach dem Mantel fragen).
Wie Buridans Esel steht der Schriftsteller heute
zwischen zwei Möglichkeiten: sich in den Kampf für Prinzipien begeben
oder seinen Garten zu bearbeiten.
Wählt er das erstere, hat er die Literatur verraten;
Wählt er das zweitere, bleibt ihm die permanente Reue,
sein Leben umsonst gelebt und seine Begabung im Stich gelassen zu haben.
-Danilo Kiš-
Ich möchte etwas über zerstörte Häuser erzählen. Auf den ersten Blick wirkt das so: das Aussehen der Ruine muss beschrieben, die richtigen Wörter müssen verwendet werden (so würden es zumindest diejenigen beschreiben, die naiv genug sind, um so etwas zu glauben), der zerschossenen Fassade muss irgendeine Bedeutung zugesprochen werden, die sie alleine im Grunde gar nicht hat. Eine zerschossene Fassade sind Löcher im Mörtel, nichts anderes. Ein anderer Schriftsteller würde vielleicht einen Architekturratgeber heranziehen und so viele richtige Informationen auf einen Zettel schreiben, dass wir das Haus deshalb gar nicht sehen würden. Er würde vielleicht den Durchmesser eines jeden Loches, das Gewicht eines jeden Ziegels berechnen, die Farbe mittels einer Spektralskala bestimmen usw. Das sind diejenigen Schriftsteller, die wie Wikipedia klingen, und, wenn man nicht näher darauf eingeht, sehr schlau wirken. (Viele von ihnen sind nichts anderes als Arnold Bennett mit einem Laptop. Die anderen versuchen mühsam das literarische Prinzip von David Foster Wallace zu kopieren, ohne auf das zu achten, was das Wallasche Prinzip rechtfertigt.) In diesem Informationsdurcheinander erstickte also das Detail und das zerstörte Haus blieb uns nach wie vor verborgen.
Eine andere Schriftstellerin würde vielleicht ein Synonymwörterbuch verwenden. Das sind diejenigen Schriftsteller, die Angst vor einfachen Sätzen haben und die schreiben, um sich in der Eloquenz (oder zumindest der Eloquenz des gegebenen Wörterbuches) zu beweisen. Für sie ist ein Fenster nie einfach nur ein Fenster. Solche Literatur wird, wie es Borja Bagunya sagte, auf eine Wörterkollektion aus Keramik reduziert, die in einer Vokabularvitrine steht. Und so wie eine Figur mit abgeblätterter Farbe sind auch diese Worte hohl und nutzlos.
Ein dritter Ansatz wäre auf den ersten Blick der fairste. Der auf das zerstörte Haus starrende Schriftsteller würde versuchen Bedeutungen, Symbole, Geschichte, Soziologie und Pathetik darauf einzupfropfen, um uns dann sagen zu können, was das zerstörte Haus darstellt. Das muss man auch verstehen, da es sich um den Drang menschlicher Natur handelt, in allem, was wir sehen, irgendeinen Sinn zu erkennen. (Wenn wir die Geschichte des Mehls nicht kennen, wird es zum unverdaulichen Puder.) Es ist jedoch ein Fehler, den Blick vom Haus zu heben und diesen zu lange in der Luft darüber schweifen zu lassen, in einem dunstigen Ideenschleier, um schließlich diesen wieder auf das Objekt der Betrachtung zu senken zu vergessen. Am schlimmsten ist es, fast unmöglich, auf etwas zu blicken und nur das, einfach, direkt und ohne symbolische Verschleierung zu sehen. (Der argentinische Fotograf Juan Diego Valera zeigte den Anwesenden während eines Workshops die Fotografie einer Kreuzigung aus einer Kathedrale und fragte sie, was sie sehen würden. Alle antworteten: Kreuzigung Christi. „Nein“, sagte Valera, „ihr seht einen an Holz genagelten menschlichen Körper. Ich fragte nicht, was ihr schon wisst, sondern was ihr seht.“) Die mühsame Arbeit des Schriftstellers würde vielleicht in dem Versuch bestehen, das zerstörte Haus nur zu sehen. Das Experiment ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, da sich der Schriftsteller der Worte bedient, und jedes dieser Worte zieht eine zu schwere Last mit sich.
In dem Moment, in dem wir im ersten Satz „zerstörte Häuser“ schrieben, haben wir uns von diesen bereits ein bisschen entfernt. Es kommt mir so vor, als ob nur eines übrig bleibt: die zerstörten Häuser versuchen zu beschreiben und sich bei diesem Versuch die Niederlage eingestehen. Vielleicht bezeugen wir durch Schreiben nur die sprachliche Ungenauigkeit und das Schreiben ist Beweis für die Unmöglichkeit, sich einer echten Sache zu nähern. Es ist eine Art etwas zu sagen, nichts weiter als das.
Während ich auf die zerschossenen Fassaden Sarajevos Ende Oktober blicke, wenn die Stadt anfängt, Dunst abzulassen, der in die Luft wie die altgewordene Seele eines Verstorbenen emporsteigt, liegt mein Problem nicht in der Auswahl des Werkzeugs, sondern im ethischen Dilemma. Bin ich verpflichtet, über diese Häuser zu schreiben? Ist das irgendjemand? Und, egal ob ich es bin oder nicht, habe ich das Recht, dies zu tun?
Vor ungefähr zehn Jahren fing diese Frage an mich zu verfolgen. Ich arbeitete bei einem Kurzfilmfestival in Banja Luka, mein Job lautete head of hospitality (weniger schön – Hausdame) und meine Aufgabe bestand darin, mich um die Gäste, ihre Flugtickets, den Flughafentransfer, die Hotelzimmer, vegane Sandwiches, Goodie Bags, Schmerztabletten, Tampons und alle anderen Wünsche der Regisseure zu kümmern. Schnell wurde ich unter anderem auch zum Reiseführer für Banja Luka und all seine umliegenden Dörfer, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt Anglistik-Studentin war, die mehr von Byron als von Bosnien wusste. Schnell begriff ich, dass ich für diese Arbeit nicht „lokal“ genug war. Den jungen Künstlern aus Berlin, Paris, Moskau und Tokio war eine Jeans tragende, Bob Dylan hörende und das erste Mal die Ulysses lesende Bosnierin nicht interessant genug. Sie wollten etwas Authentisches. Sie wollten, dass ich sie zu Ethno-Restaurants, „etwas Typischem“, führe, obwohl es für meine Freunde und mich zu der Zeit am typischsten war, ein Sandwich beim Bäcker zu kaufen und sich in den Park zu setzen. „Etwas Typisches“, wiederholten sie, „etwas wirklich Typisches“, sodass ich selbst gar nicht mehr wusste, was Bosnien und was Banja Luka ist, weil ich angefangen hatte, meine Stadt mit ihren Augen zu sehen. Ich machte mich auf die Suche nach typischer Musik, typischem Essen, typischen Menschen. Ich lieferte ihnen und gemäß ihrer Wünsche kleine, gesüßte Happen einer verlogenen Authentizität. Obwohl ich wusste, dass mein Land reich an Kultur und Tradition ist, schien es mir damals so, als ob ich an einer Art Folklore-Fetisch, der Prostitution des kulturellen Erbes teilnahm, dessen Ziel nicht das bessere Verständnis Bosniens und deren Bürger, sondern die Bestätigung einer exotischen Vorstellung war, die sie schon bevor sie überhaupt nach Bosnien kamen hatten.
Als ich vorgeschlagen hatte, statt in eine Turbo-Folk Diskothek lieber zu einem Punk-Auftritt meiner Freunde zu gehen, waren sie maßlos enttäuscht, einige waren sogar sichtbar verärgert, und eine junge Frau aus Österreich erklärte, ich gehöre zu der kulturellen Elite, die sich der Schätze ihres Landes nicht bewusst sei. Ich hatte keine Lust ihr zu erklären, dass vor allem Turbo-Folk nicht typisch bosnisch ist und dass ich das Recht der Menschen, daran Spaß zu haben, vollkommen unterstütze. Mich ekelte die Erkenntnis an, dass diese jungen, urbanen und gebildeten Regisseure und Regisseurinnen in diese Diskothek gehen würden, nicht weil sie Turbo-Folk mögen, sondern mit dem Wunsch sich an anderen zu ergötzen und diese zu studieren, als ob es sich um exotische Tiere handeln würde. Mit anderen Worten – Bosnien hatte kein Recht auf Punk. Es musste, gewollt oder ungewollt, auf die Karikatur seiner selbst reduziert werden, um in die vier Ecken einer billigen Postkarte passen zu können.
Ich erinnere mich, dass uns einige dieser Leute gefilmt haben. Sie führten mit dem Personal und den Volontären des Festivals kürzere Interviews durch. Ein sympathischer junger Mann aus den USA hielt mir eine große Kamera vors Gesicht und sagte: „Stell‘ dich vor und sag‘, wer du bist und woher du kommst.“
„Ich bin Lana. Ich studiere Anglistik und schreibe. Ich komme aus Zagreb, aber lebe in Banja Luka.“
„Nein, ich meine, welche Nationalität du hast. Ich habe eine Kroatin und einen Bosniaken gefilmt.“
Ich sagte, dass das in meinem Fall ziemlich kompliziert ist. Ich wusste nie, wie ich auf diese Frage mit einem einfachen Satz antworten sollte ohne abzuschweifen und ohne Wendepunkte, Zufälle, Faschismus, „die reine kroatische Luft“, Omas Wurzeln, Uromas Namenspatron, Opas fünfzackigen Stern und letztlich die falschen Entscheidungen meiner jungen, verlorenen Eltern zu erwähnen. Ich wollte ihm nicht von Jugoslawien berichten, weil ich davon nichts wusste, und dennoch, ohne Jugoslawien konnte ich mich selbst auch nicht erklären. Er entschied, dass ich ein „ziemlich interessanter Fall“ sei und akzeptierte, dass ich mich um der Kamera wegen als „Weltbürgerin“ bezeichnete – diese sinnlose Zuschreibung, die mir schon immer auf die Nerven gegangen ist, und derer sich vor allem diejenigen bedienen, die die spezifisch lokalen Schwierigkeiten dieser Welt, der sie sich so leicht zuschreiben, nicht gespürt haben. Ich verstand dann, dass all diese Regisseure, meine „Gäste“, nicht nach Bosnien gekommen waren, sondern in einen Zirkus, eine Art Freak Show, mit der sie sich selbst zu beweisen versuchten, sich um die „dritte Welt“ zu sorgen, wobei sie die Tatsache, dass ihre Welt die „erste“ oder „zweite“ ist, bedingungslos akzeptierten. Im Nachhinein würden sie in ihre bequemen Hipster-Wohnungen zurückkehren, glücklich, nicht im Zirkus leben zu müssen. Und obwohl sich mir der Magen jedes Mal umdrehte, wenn ich das Wort „typisch“ hörte, ging ich meiner Arbeit mit bestem Wissen und Gewissen nach und bemühte mich, alle glücklich und zufrieden zu stellen. Ich reduzierte Bosnien auf ein Mindestmaß.
Gegen Ende des Festivals passierte dann etwas, was mich stocken ließ, so als ob diesem Zirkus auf einmal der Strom abgedreht wurde und das Riesenrad aufhörte, sich zu drehen. Eine Regisseurin aus Japan, mit einer riesigen Kamera auf ihrer Schulter, fing im Zentrum Banja Lukas wie besessen um sich zu blicken und fragte fast enttäuscht: „Und wo sind die zerstörten Häuser?“ Die Fassaden aus österreichisch-ungarischer Zeit und die Glasschaufenster nervten sie offensichtlich. Ich dachte daran, ihr zu sagen, sie solle nach Sarajevo fahren, aber irgendwas in mir blieb stehen, „etwas Typisches“ kam hervor. Ich fühlte mich wie die Verkäuferin einer Boutique, die von einer wohlhabenden ausländischen Kundin gesagt bekommt, sie brauche das Kleid eine Nummer größer. (Kein Problem, wir haben Sarajevo, das passt Ihnen bestimmt.)
„Ich weiß es nicht, frag jemand anderes“, antwortete ich. Ich hörte das Schweigen aller Häuser um mich herum. Ich hörte das Schweigen der zerstörten Ferhadija-Moschee, das Schweigen des bunten Terranova-Schaufensters, das Schweigen kitschiger, neu errichteter Kirchen, und vor allem das Schweigen Banja Lukas zu alledem. Die Löcher in den Fassaden Sarajevos schwiegen auch, aber ihre Stille war anders, schwerer, sie verschloss die Ohren wie bei Druck. Ich wusste, darüber müsste gesprochen werden und ich werde eines Tages einen Weg finden, das zu tun, aber nicht so. Nicht auf ihr Kommando und nicht für ihre Kamera. Ganz einfach, ich lehnte es in diesem Moment ab, eine Bosnierin zu sein. Ich lehnte schlussendlich eine Welt ab, in der zerstörte Häuser „etwas Typisches“ sind.
Und trotzdem, all das bedeutet nicht, dass ich eine von denen bin, die sich vor ein zerstörtes Haus setzen und ein Sonett über das Maiglöckchen schreiben würde. Richtig, der Schriftsteller oder die Schriftstellerin hat das Recht über irgendwas zu schreiben und dabei sollte die einzige Sorge darin bestehen, diese Arbeit bestmöglich zu verrichten. Bücher, die politische Erfahrungen banalisieren, scheinen mir viel gefährlicher als Sonette über Maiglöckchen. Aber egal wie oft ich die Wichtigkeit eines schönen Satzes befürworte, frage ich mich manchmal ehrlich, was wir mit all dieser Schönheit anfangen sollen? Das erinnert mich an einen Mann, der statt zu einem Psychologen zum Friseur geht.
Ich weiß, dass viele Schriftsteller und Leser nicht meiner Meinung sein werden. Trotzdem scheint es mir so, dass meine Generation zu viele unverarbeitete (oder falsch verarbeitete) Traumata geerbt hat, um einen schönen Teppich zu weben, unter den sie einen Haufen Alpträume kehren kann. Überall um uns herum sind Rechtlosigkeit, Hass und Paralyse. Das Trauma ist auf diesem ganzen geographischen, kulturellen und vor allem sprachlichen Gebiet spürbar, wie Radiationsreste. Das Trauma hat sich genetisch fast repliziert und sich in das Bewusstsein von uns, denjenigen, die sie weder verursacht noch vollkommen erlebt haben, übertragen.
All diejenigen, die große Liebhaber und Befürworter der nutzlosen Schönheit sind, sollen jetzt auf mich sauer sein, aber das Schweigen von zerstörten Häusern ist eine politische Wahl, die gleichermaßen ideologisch gefärbt ist wie das Schreiben über diese. Gute Literatur hängt nicht vom Thema ab, sondern von der Handwerkskunst des Autors oder der Autorin. Das bestreitet jedoch nicht die Tatsache, dass der Autor das Thema wählen kann, die Handwerkskunst aber nicht. In der heutigen Welt, in der im Gegensatz zu bekannten Klageliedern mehr Bücher geschrieben, publiziert und verkauft werden denn je, in einer Welt, in der jeder das Recht hat am literarischen Dialog teilzunehmen und nicht nur einige privilegierte alte weiße Männer, ist es nicht zu viel verlangt, dass jemand beides kann: einen schönen Satz schreiben, ohne die zerstörten Häuser zu ignorieren. Genauso wie mich ein schlecht geschriebener Roman über den Krieg interessiert, interessiert mich die Schönheit, die für die eigene Zeit taub ist, immer weniger.
Als Leserin erwarte ich erstklassige Literatur und nicht einen praktischen Umgang mit der Syntax. Schreiben Sie also ein herausragendes Sonett über das Maiglöckchen, aber seien Sie sich dessen bewusst, dass das Maiglöckchen zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Rahmen wächst, sonst wird die Literatur zu einem Glashaus, in dem, unabhängig von der Jahreszeit, gleichermaßen das Maiglöckchen, der Kaktus und die Tomate wachsen.
Das Gefühl für Zeit und Raum darf andererseits nicht auf reine Erlebnisberichte reduziert werden. Die Frage Wovon handelt das Buch? ist nicht die gleiche wie Und, was passiert in dem Buch?. Die Literatur, die eine Reihe an Ereignissen als ihr Grundthema interpretiert (und umgekehrt) wird in eine stilisierte Reportage umgewandelt. Es ist also möglich, ein Buch voll mit Kriegsgeschehnissen und Krankheiten des modernen Zeitalters zu schreiben. Es ist aber genauso möglich über zerstörte Häuser zu sprechen, ohne diese zu erwähnen.
Ich denke also nicht, dass irgendein Schriftsteller oder eine Schriftstellerin vom Balkan die Pflicht haben, über ein Ereignis zu schreiben. Wenn sie ihre Literatur auf die Banalitäten des gesellschaftlichen, kulturellen und geschichtlichen Erbes ihres Landes reduzieren, dann haben sie dem Wunsch jener japanischen Regisseurin entsprochen, ihr die zerstörten Häuser zu zeigen. Unsere Bücher werden somit zu „etwas Typischem“ und wir, Autoren und Autorinnen vom Balkan, werden Teil des globalen Ethno-Marktes der Eitelkeiten, auf dem einem erlaubt wird, Hausschuhe, Süßspeisen und Lebkuchenherzen zu verkaufen. Außerdem, das ist das Spiegelbild des Kapitalismus – rohe Kompartmentalisierung, innerhalb derer ich als Autorin zur Bosnierin werde. Einem solchen Markt reicht für jede lokale Abteilung immer jeweils eine Sprecherin aus. Wir haben eine Bosnierin und damit haben wir diesen Teil der Welt abgedeckt und gezeigt, dass wir uns kümmern, eine weitere ist nicht nötig.
Viele Schriftsteller spielen diese Karte aus und werden freiwillig zu Selbst-Exoten. Das sind diejenigen, die im Gegensatz zu tauben Ästheten an den Blumen riechen, während um sie herum Häuser zerstört werden. Sie sind so von Zeit und Raum umzäunt, dass sie nicht in der Lage sind, das Kollektiv im Einzelnen zu sehen und sie sind der Meinung, die hervorgehobene Örtlichkeit ihrer Literatur sei deren größte Stärke. Am Ende dieser selbstverliebten „Hey, Morawa, hey“ pastoralen Spaziergänge steht ein verwurzelter Provinzialismus.
Vor kurzem hat ein bekannter kroatischer Schriftsteller gesagt, die Literatur sei immer lokal. Ich verstehe, was er sagen wollte, aber genauso denke ich, dass er es nicht zu genüge erklärt hat. Die Bücher werden vielleicht an einem bestimmten Ort und in einem bestimmten Moment geboren, aber kein Buch wird groß, weil es irgendwo passiert. Es ist vollkommen unwichtig, ob Hamlet ein Däne war. Es ist irrelevant, in welcher Stadt Gregor Samsa wach wird. Ich erinnere auch an den eloquenten Herren, der seinerzeit Virginia Woolf aus Protest geschrieben hatte, weil sie in Die Fahrt zum Leuchtturm Bäume beschrieben hat, die in Schottland nicht wachsen. Stellt euch vor, wie stolz dieser Mann auf sich und seine Wahrnehmung, seine lokalen Kenntnisse gewesen sein muss, wenn er einen der größten Romane des 20. Jahrhunderts auf die Botanik reduziert hat.
Die Tatsache, dass die Schriftsteller und Schriftstellerinnen von spezifischen Punkten des Meridians ausgehen, ist nichts Neues. Dennoch bin ich der Überzeugung, ihre Kompasse müssten zu einem zentralen Punkt, der Frage der Menschlichkeit, zeigen, obwohl sie alle zu diesem Zentrum mit unterschiedlichen Booten und über unterschiedliche Wege kommen werden. Ganz im Gegenteil, sie können sich mit dem Schreiben von Postkarten zufriedengeben. Diejenigen, die ihre Literatur auf die Berichterstattung von Serben, Kroaten, Bewohnern von Belgrad, Sarajevo, Liliputaner reduzieren, statt auf Menschen, sie sollten sich mit der Tatsache zufriedengeben, ihre Lebenszeit damit vergeudet zu haben, eine große Antwort auf eine unbedeutende Frage gegeben zu haben. Wenn Ihnen also ein Schriftsteller mit Stolz sagt, sein Roman könne z.B. nur von Herzegowinern verstanden werden, nehmen Sie das Buch und schlagen ihm damit über den Kopf. Als erstes, weil er behauptet, ein Buch könne vollkommen verstanden werden; zweitens, weil er auf die Irrelevanz seines Textes stolz ist; drittens, weil sein Buch zumindest auf diese Weise etwas Universelles über die Gehirnerschütterung und Bewusstlosigkeit sagen wird, wenn es schon nicht tiefer in unsere Psyche vordringen kann; viertens, weil ein Roman, dessen Hauptcharakteristikum darin liegt „von der Herzegowina“ zu handeln, nur für das Hervorrufen der Amnesie bei den Herzegowinern genutzt werden kann.
Man muss sich Mühe geben und in Paul Cezannes Stillleben von den Äpfeln ein konkretes Obst erkennen, dass 1895 gereift ist. Das Bewundern von Äpfeln, ausschließlich weil sie aus einem französischen Dorf stammen, sollte die Arbeit eines Landwirtes und nicht die eines Künstlers sein.
Auf der einen Seite steht also diese literarische Blindheit, Ohnmacht, sich lokal aus dem Provinziellen zu erheben und in kleinen Antworten zeitlose menschliche Fragen zu finden. Auf einer vollkommen anderen Seite begegnet uns das „Zurechtmachen des eigenen Gartens“, eine bösartige Sorte der literarischen Taubheit bzw. die Unmöglichkeit, die Stimme der eigenen Zeit innerhalb der in Sirenenlieder eingeschaukelten Bourgeoisie. Sogar Beckett beschwerte sich deshalb, als ihm bei einer Gelegenheit von einem amerikanischen Akademiker gesagt wurde, er „scheiße auf Leute“. „At this point Beckett raised his voice above the clatter of afternoon tea and shouted, “But I do give a fuck about people! I do give a fuck!”
Ich lehne es ab anzunehmen, ein Schriftsteller müsse heute taub sein, um zu sehen und blind, um zu hören. Sein bzw. ihr Job ist es, eine Balance zwischen diesen beiden Extremen zu schaffen, selbst wenn die ganze Mühe umsonst war, oder gerade deshalb. Die Balance, auch wenn sie nur zwei Sekunden lang anhält, ist der Beweis dafür, dass es uns wichtig ist.
Wenn wir uns an das augenscheinlich Einfache halten, obwohl es in Wirklichkeit ein schwerer Imperativ ist, können wir zweifelsohne behaupten, gute Literatur alleine, sei immer engagiert. Ihr Engagement zeigt sich in dem stetigen Versuch, uns etwas über uns zu erzählen, über die Zeit und den Raum, in dem wir leben, und über das, was in dieser Zeit zeitlos und in dem Raum global erscheint. Ein Schriftsteller, der das engagierte Schreiben zum Ziel hat, wird das sanfte Zentrum der wahrhaftigen Literatur verfehlen und sein Buch im voraus zum Tode verurteilen, wobei er mit diesem Akt seinem eigenen „Engagement“ den Boden unter den Füßen nehmen wird.
Was können wir, die im Heute und Hier vom Nachkriegsbalkan schreiben, in einem solchen Fall tun? Es ist gleichermaßen wichtig, diese Tatsache nicht zu ignorieren als auch daraus ein Programm zu machen oder gar in eine billige Postkarte zu stilisieren.
Es ist wichtig, von zerstörten Häusern nicht zu sprechen, nur weil es eine Touristin von uns verlangt, sondern auch einen Weg zu finden, die Detonationsvibrationen auch nach der Zerstörung subtil auf unsere Literatur zu übertragen. Selbst dann, wenn wir von einem Maiglöckchen schreiben, das verstaubt unter dem zerbombten Beton erzittert. Den Balkan also nicht auf dem Jahrmarkt der Wunderlichkeiten anpreisen, auf dem Anomalien am besten verkauft und die Empathie der Privilegierten mit dem Kauf unseres Buches bewiesen werden.
In diesem Recht, die eigenen Traumata auf die von uns selbst gewählte Weise zu verarbeiten, liegt unsere literarische Würde. Wir sind zwar Schriftsteller und Schriftstellerinnen vom Balkan, unsere Literatur geht aber entweder alle oder niemanden etwas an. Die Literatur, wie Danilo Kiš schon sagte, ist die „eine und untrennbare“.
Die Wahl besteht also, unabhängig davon, dass uns der Markt, ob wir das wollen oder nicht, zwangsläufig in mehr oder weniger zufällig gewählte Kategorien sortieren wird. Meine Wahl ist die, dass ich als Autorin vom Balkan, an dieser einen und untrennbaren Literatur als Schriftstellerin teilnehme und nicht als Bosnierin. Mein Widerstand gegen die Kategorien, das Sortieren und Rangieren, zeugt nicht vor Ignoranz des Raumes, aus dem ich erzähle, noch von der Zeit, in der ich schaffe. Es handelt sich einfach um literarische Würde.
Homo poeticus wurde nicht von Zeit und Raum getrennt während er schrieb, mit der zum Papier gewandten Handfläche, während die obere, gröbere Seite der Hand, immer gen Welt, im Hier und Jetzt, blickt. Diese Seite aber, faltig und durch Zeit und Raum dunkel geworden, kann den Stift einfach nicht festhalten. Wir brauchen aber die ganze Hand, mit ihren beiden Seiten, um schreiben zu können.
Zum Schluss möchte ich das Recht auf Würde und die Ablehnung der Schubladen mit einem realen Erlebnis illustrieren. Dieses hat also seine Zeit und seinen Ort. Es ist 1942, der Ort ist das Konzentrationslager Jasenovac. Mein elfjähriger Großvater, krank, unterernährt und verängstigt, steht in einem Büro und blickt auf den Beamten der Aufständischen, der seinen Entlassungsbrief schreibt. Die Geschichte ist nicht wichtig, weil sie meinem Großvater passiert ist. Sie ist auch nicht wichtig, weil sie von Serben oder Kroaten handelt. Ich habe sie mir gemerkt, weil sie etwas davon erzählt, was es bedeutet, Mensch zu sein.
Die Geschichte änderte sich jedes Mal, wenn er sie erzählte, und da er jetzt tot ist, scheint es sinnlos nach Authentizität zu suchen. Einmal hatte er gesagt, ein anderer Soldat habe ihn aus dem Lager gerettet, ein anderes Mal war das eine Frau, ein drittes Mal doch jemand drittes. Und dennoch, das, was wichtig ist, bleibt in jeder Version der Geschichte gleich und das ist der Mantel. Das ist das, was diese Geschichte menschlich macht.
Der elfjährige Junge steht also und wartet darauf, sein Leben zu bekommen. Er friert, er hat Hunger und er steht kurz davor, Typhus zu bekommen. Sein Vater und sein Bruder sind ermordet worden. Es ist November, draußen ist es kalt, aber drinnen herrscht der Tod.
Nachdem die Bürokratie des menschlichen Lebens erledigt wurde ist der Junge frei zu gehen. Er wird aus Jasenovac rausgehen und wird ein Leben haben. Er wird die Universität abschließen, er wird ein angesehener Epidemiologe und Sanitätsoberst der Jugoslawischen Nationalarmee. Er wird das schönste Mädchen von Zagreb heiraten. Er wird ein Buch schreiben. Wenn er mit 85 Jahren in Belgrad stirbt, wird er seiner Enkelin eine Schreibmaschine hinterlassen. All das wartet auf ihn, er muss nur das Papier nehmen und rausgehen.
Dann passiert etwas Unglaubliches – auf der Schwelle zwischen Leben und Tod schaut der Junge den Beamten direkt an und sagt „Kann ich den Mantel da auch mitnehmen?“. Der Beamte blickte zur Wand, auf die der Junge zeigte. Er konnte seinen Ohren nicht trauen. Wieviel Dreistigkeit kann in einem Kind stecken – man gibt ihm das Leben und er will jetzt auch noch den Mantel? Gib ihm den Mantel, verdammt sei er und der Mantel.
Der kranke Junge kommt aus Jasenovac raus. Der Körper wurde dort in Schubladen gesteckt. Homo politicus mit einer zugeteilten Nummer. Der Vater und der Bruder waren Körper, der Junge ging in das Lager als ein Körper, aber er lehnte es ab, als Körper rauszukommen. Wenn ein Danach existiert, wird er in dieses als Mensch und nicht als eine Zahl hineintreten.
Mein Großvater, Homo poeticus, läuft über das vereiste Feld in einem zu großen Mantel.
Eine Antwort auf „Übersetzung von Lana Bastašićs Essay – Tražiti kaput“
[…] dass wir uns bereits nach mehr von ihr verzehren dürfen — und Leserinnen des BiBlogs werden hier auf diesem Blog mit der Übersetzung des Essays Nach dem Mantel fragen (Tražiti kaput) durch Emina Haye fündig. […]